Decke und Kissen

Low – Down

Es regnete nun schon eine ganze Woche. Jeden Morgen der gleiche Blick aus dem Tröpfchen-befallenen Fenster. Dieser irre Tröpfchenbefall, er legte sich wie eine zähe, feuchte Masse über die ganze Welt, diese ganze Welt da draußen, die sie doch nur über den immer gleichen Blick aus dem Fenster hinüber auf die bräunlich graue Hauswand erahnen konnte. Ich denke, das Geheimnis ist jetzt raus, dachte sie und wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Sie hatte dieses Bett seit einer ganzen Woche nicht mehr verlassen – Toilettengang und gelegentliches Pizza-in-den-Ofen schieben ausgenommen. Zuletzt hatte sie aber überhaupt aufgehört zu essen und auch die Toilettengänge entwickelten sich zahlenmäßig rückläufig.

Sie fasste sich an die verspannten Schultern. Ouch. Eine ganze Woche im Bett, das war für das körperliche Wohlbefinden auch nicht gerade das beste. Sie klappte den Laptop auf und verkroch sich damit unter die mittlerweile leicht säuerlich duftende Decke. E-Mails checken, Termine absagen, Freunde anlügen, Mama beruhigen, dass eh alles voll fein war. Die vormittägliche Routine, der sie nun schon seit der gesamten Regenwoche nachging. Sie fand diesen Shit ein wenig anstrengend, aber was gemacht werden musste, musste eben gemacht werden. Noch ein schneller Chat mit dem Arbeitskollegen, behaupten, dass die Bronchien noch immer Probleme bereiteten und dann endlich Freizeit.

Eine unheimliche Erleichterung machte sich in ihr breit, sobald die täglichen Pflichten erfüllt und ein weiterer Tag im Bett per digitalem Schriftverkehr erkauft war. Erkauft? Ja sicher, erkauft. Lügen lag ihr nicht so, sie musste sich tatsächlich schwer dazu überwinden. Sie hatte zuvor sogar gegooglet: “Wie lügen, ohne, dass es jemand merkt”, “Lies, an introduction”, “Lügen für Anfänger” und “Lies, lies, lies”. Sehr viel genützt hatten ihr die Suchergebnisse nicht, aber naja, einen Versuch war es wert. Gegen die Bauchschmerzen beim Lügen nahm sie jetzt immer ein bisschen was von den Anti-Depressiva-Restbeständen. Die waren zwar schon lange, lange abgelaufen, aber was sollte schon schief gehen.

“Wenn du was brauchst, melde dich!” Jaja, diese Freundin, sie war immer unheimlich besorgt. Das war natürlich sehr lieb und einmal, aber nicht in dieser Regenwoche, sondern einmal vor ein paar Jahren schon, da hatte sie sich tatsächlich Zitronen, eine Packung Zigaretten und zwei Liter Cola Light von ihr bringen lassen. Das hatte sie damals gebraucht. Oh Fuck, so eine Cola mit ein bisschen Zitrone drin, das wäre jetzt geil. Sie drehte sich unruhig hin und her und schabte ihren schmerzenden Rücken an der muffeligen Matratze. Der nächste Supermarkt war direkt unten, nebenan. Man konnte da durchaus im Pyjama hin, aber machte sie nicht. Ne, ne, ne, das machte sie nicht. Sie konnte ja nicht mal im Pyjama ins Erdgeschoss, um den Postkasten zu leeren. Was, wenn sie jemandem begegnen würde? Was, wenn jemand sie ansprechen und im allerschlimmsten Fall sogar etwas fragen würde? Was, wenn jemand merkte, dass sie gar nicht krank war? Ok, ok. Sie sah schon ziemlich fertig aus nach dieser Woche, daran sollte es nicht scheitern. Aber nein, nein. Sie würde jedenfalls nicht in diesen Supermarkt gehen. Und Duschen war ohnehin keine Option. Das dauerte zu lange und sie war eigentlich auch wirklich zu müde dafür.

Sie hätte auch gerne geraucht jetzt, wäre sie nicht so müde gewesen. Zigaretten waren noch da. Sie lagen im Vorzimmer neben ihren Schuhen, neben ihrem schwarzen Kleid und dem weißen Ledergürtel – genau so, wie sie alles zu Beginn der Regenwoche dort fallen hatte lassen, nachdem sie durchnässt zuhause angekommen war. Was für ein schrecklicher Abend das war, was für ein furchtbarer Weg von der U-Bahn-Station bis hinauf in den fünften Stock zu ihrer Wohnungstür. Die Blicke der Menschen auf der Straße, die Verachtung von allen Seiten, das Gebrüll und Gegröhle, der einsetzende Regen, der Sturm, die Blicke der Menschen auf der Straße. Diese Blicke.

In der Eile hatte sie ihren Schal verloren, er war ihr einfach so runtergerutscht, sie hatte nicht gewagt, stehenzubleiben. Sie war einfach immer weiter und immer weiter gegangen. Nicht gelaufen, aber doch recht schnell gegangen. Ob sie es noch ändern hätte können? Ob sie noch etwas tun hätte können, bevor sie sich auf den Weg nach Hause gemacht hatte? Ob sich jetzt überhaupt noch jemand daran erinnerte? Sie fasste sich an die Stirn. Schweißperlen krochen unter ihrem Haaransatz hervor. Sie wischte sie ab. Sie drückte den Kopf ganz tief in das eine Kissen und bedeckte ihn mit dem anderen.

Es war schon 13.44 Uhr, als sie mit Kopfschmerzen wieder aufwachte und halb benommen “Guten Morgen” in ihr Smartphone tippte. Die Nachricht ging an Mimmi. Mimmi war eine entfernte Bekannte aus Stockholm, die sie nicht mal besonders gut leiden konnte. Aber seit sie im Bett lebte, war Mimmi ihr doch die liebste Ansprechperson. Mimmi stellte kaum Fragen und Mimmi erlebte immer wahnsinnig lustige Dinge, weil sie sehr ungeschickt war und auch ein bisschen den Hang dazu hatte, sich von Leuten was vormachen zu lassen. Aus dieser Kombination heraus und aufgrund der Tatsache, dass Mimmi extrem gerne über ihre Erlebnisse berichtete, war Mimmi ihre beste Freundin geworden in dieser Regenwoche. Eine Fernbeziehung mit wenig Potenzial, aber doch so etwas, wie ein Schlupfloch aus dem Bett, ohne dass sie dieses verlassen musste.

“Schon wach? Du bist heute aber früh auf”, schrieb Mimmi zurück. Ja, indeed. Heute war es noch recht früh. Ein guter Tag also, dachte sie und musste fast ein wenig lächeln. Sie sprang aus dem Bett auf, riss die saure Decke in die Luft und ließ sich auf den kalten Parkettboden fallen. Sie presste den Kopf ganz fest gegen das staubige Holz und begann zu weinen. Es fühlte sich so gut an. Endlich. Nach über einer Woche, nach über einer Woche kamen endlich die Tränen. Sie kullerten und kullerten, heiß und klebrig. Unter ihrer Wange bildete sich ein kleiner Tränensee. Dabei war sie ganz still, kein Schluchzen, kein Schnaufen, nur die Tränen, ganz still.

“Läuft bei mir”, tippte sie. Dazu noch ein Katzen-Smiley, so ein verschmitztes, kein trauriges. Senden.

Out of control, out of my control

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