Laute Stille

Allo Darlin’ – Tallulah

Es roch nach Sand. Ein bisschen roch es auch nach frisch gemähtem Gras, aber das war weiter weg, nur angedeutet von einem Wind, der erst später aufziehen würde. Es roch nicht nach irgendeinem Sand, sondern nach diesem roten Sand, den man auf Tennisplätzen findet, der immer auch etwas mit dem Geruch von Umkleidekabinen und verschwitzten Turnschuhen zu tun hat. Jedenfalls in ihrer Nase. In ihrer Nase spielten sich ja täglich die irrwitzigsten Erinnerungen ab. Ihre Nase erinnerte sich ständig an irgendetwas, wenn sie so durch die Straßen ging, oder in einem Spargelrisotto rührte, oder am Sonntagabend eine Tankstelle aufsuchte, um eine Packung Toastbrot zu kaufen. Die Nase wusste da immer irgendwas zu melden, an ihr Gehirn nämlich, dorthin, wo die Erinnerungen wohnten.

Den Erinnerungen hatte sie ein schönes großes Haus gebaut in ihrem Gehirn, mit vielen unterschiedlichen Zimmern. Und je nachdem, wie sich diese Erinnerungen benahmen, je nachdem, wie viel an schönem Gefühl sie ihr bezahlten, je nachdem durften die dann im Wohnzimmer sitzen oder halt nur auf dem Klo. Im Keller, da waren natürlich jene Erinnerungen eingesperrt, die einfach nicht auszuhalten waren. Aber klar, hey, das machten doch alle so in ihren Gehirn-Erinnerungswohnungen. Sie warf sich da selbst nichts vor. Du musst kein schlechtes Gewissen gegenüber deinen beschissenen Erinnerungen haben, die sind schuld und nicht du, dachte sie und tupfte ihre aufgeschürften Unterarme mit einem Taschentuch ab, auf das sie zuvor ein bisschen Spucke verteilt hatte.

Mit Spucke konnte man eigentlich alle Wunden heilen, das wusste sie noch von ihrer Oma. Das war eine sehr wunderbare Welt, in der alles mit ein bisschen Spucke wegzuheilen war, da brauchte es nämlich nicht einmal Zeit. Das Sprichwort der Oma ging: “Die Spucke heilt alle Wunden”. Dass das die Oma nie so gesagt hatte, war auch egal, weil es trotzdem gestimmt hatte. Das war allerdings ganz früher, als sie noch klein und die Erinnerungen noch keine Erinnerungen sondern gerade passiert waren.

“Ich werd ein neues Kleid brauchen, weil das hängt jetzt echt nur mehr in Fetzen”, sie rieb ihre aufgeschürften, leicht bespuckten Unterarme an dem zerissenen Stoff ab und lachte. “Ja”, antwortete ihre Freundin und legte den Kopf zurück auf die von der Sonne aufgeheizten Eisenbahnschienen. “Wenn da jetzt ein Zug käme, der könnte mir den Schädel sauber abschneiden. Klarer Schnitt am Hals. Schwubs. Dann fällt der da runter in den Graben und aus dem Rest spritzt die Blutfontäne. Haha.” “Was du für einen Schaden hast”, sie schüttelte den Kopf und warf ein vertrocknetes Grasbüschel auf ihre lebensmüde Freundin. So lebensmüde war die aber gar nicht, eigentlich ganz im Gegenteil, die liebte das Leben ja geradezu. Ein Zustand, den sie selbst bisher nicht erreichen hatte können. “Ich glaube aber nicht, dass der Zug dir den Kopf so sauber abtrennen kann. Ich glaube, da kommt nur mehr ein großer Batzen raus am Ende”, sagte sie und warf weiter kleine vertrocknete Grasbüschel auf ihre Freundin.

Ihre beste Freundin war Strawberry ja nicht, aber dafür ihre aufregendste. Allein der Name! Aber sie kannte fast nur Menschen mit außergewöhnlichen Namen. Das war irgendwie gerade der Trend der Zeit oder vielleicht auch nur ein Filter, den sie über die Menschen legte, um ein paar interessante Exemplare für sich herauszusuchen. Sowas tat sie. Menschen filtern, das war ihr Ding. Immer und immer wieder neu durchsieben und in gut sortierte Kollektionen einteilen.

“Ich bin eigentlich froh, dass wir hier den Hang heruntergestürzt sind, wir hätten diesen schönen Platz sonst im Leben nicht gefunden”, sagte Strawberry, die ihren gesamten Körper jetzt zwischen die Schienen gespannt hatte. “Wenn man einmal genau hinhört, kann man hören, wie laut diese Stille ist. Versuch du auch mal. Mir dröhnt die Stille in den Ohren.” Strawberry konnte sehr schöne Dinge sagen. Diese laute Stille, damit hatte ihre Freundin nämlich vollkommen recht. Dieser Moment, wenn sich sonst alles auflöste, bis auf die Sommerhitze und die laute Stille und den Geruch von rotem Sand. Sie wusste genau, was Strawberry meinte. Sie streichelte ihrer Freundin liebevoll über das aufgeschlagene Knie und spannte ihren Körper dann auch zwischen den Eisenbahnschienen ein. “Ok, ab jetzt. Pssst.”

Wenn ich das hier überlebe, wenn die Spucke die Schnitte weggeheilt hat und wenn wir irgendwann zuhause sind, dann werd ich ihr das sagen, dachte sie. Dann würde sie Strawberry verraten, warum sie wirklich mit ihr hierher verreisen hatte wollen. Die Freundin hatte wirklich keine Ahnung, worum es in diesem Urlaub eigentlich ging. Es war einfach zu peinlich, das im Vorfeld zuzugeben. Vielleicht war es nicht einmal peinlich, aber diese mittelmäßigen Erinnerungen, die zurzeit im Gästezimmer wohnten, die redeten ihr das ein bisschen so ein. Es konnte doch auch einfach ganz in Ordnung sein, wenn man mal wohin fährt, wo man sich dann explizit erhofft, jemandem nicht zu begegnen. Aber trotzdem will man eben so ein wenig in der Gegend sein. Nein, nein, jetzt nicht schon wieder darüber nachdenken, das macht Bauchweh. Konzentrier dich lieber auf die flimmernde Hitzestille. Sie rieb ihre verletzten Arme an den aufgeheizten Steinen, um dem Gehirn ein paar Schmerzimpulse zum Gedankenvertreiben zu schicken.

Sie lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Von Strawberry war seit gut einer halben Stunde kein Pieps mehr gekommen. Hoffentlich war sie noch da. Sie war natürlich noch da. Natürlich ist Strawy noch da, dachte sie und hörte noch etwas angestrengter in die Stille. Erst wenn auch die Vögel ihre Schnauze halten, weil es einfach zu heiß ist, erst dann ist es wirklich gut. Erst dann wird sie laut, die Stille.

“Hier wird er einmal sterben”, sagte sie und trat mit ihren Füßen gegen Strawberrys Füße. “Wer?” “Mein größter Traum. Hier wird er einmal sterben”, wiederholte sie und sprang von den Gleisen auf. “Ich habe keine verdammte Ahnung, wovon du redest, aber danke, dass du jetzt einen Lärm machen musst.” Strawberry wirkte etwas verärgert. “Musst du nicht wissen, musst du nicht verstehen. Ich muss dir eigentlich gar nichts sagen”, brüllte sie von oben auf die immer noch am Boden liegende Freundin hinunter. Strawberry schien davon wenig beeindruckt und reagierte auch nicht. Der Gefühlsausbruch kam wohl nicht besonders überraschend. Das war ihr selbst klar. Womöglich wusste Strawberry sogar, warum sie hierher gefahren waren. Aber naja, woher? Andererseits auch wieder: warum nicht. Aber war das möglich? Hatte sie ihr davon erzählt? Ne, nie. Geht das? Geht das schon wieder los?

“Ich komm später nach”, flüsterte Strawberry vor sich hin. “Ich komm dann nach.”

Sie war inzwischen auf und davon gelaufen, die Eisenbahnschienen entlang. In ihrer Wie-ein-gehetztes-Tier-Phase, ging das immer gut mit dem Laufen, dabei mochte sie Laufen normalerweise überhaupt nicht. Das war langweilig und anstrengend war es auch. Aber jetzt fiel ihr das wieder mal gar nicht auf. Wenn ich ihn nicht bald finde, um mich vor ihm zu verstecken, dann dreh ich noch durch. Sie riss ein paar Teile des zerfetzten Kleides ab und wickelte sie um die blutigen Unterarme. Alles im Laufen. Niemals stehenbleiben, nur nicht stehenbleiben. Ich muss ihn finden. Sie bremste ab und warf sich gegen den Hang, an dem sie zuvor an anderer Stelle herunter gekullert war. Ich weiß, dass er hier irgendwo ist. Ganz nah und ganz still. So still, dass ich ihn hören kann.

Sie vergrub ihren Körper im Gebüsch und begann in den Boden zu schreien. Nichts Bestimmtes, nur Laute. Jetzt dauerte es nicht mehr lange.

And I wonder if you would wanna go there with me 

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