The National – Sorrow
“Also heute bin ich mal so richtig wütend. Heute halte ich mich nicht mehr zurück. You little shit. You little fucking shit.” Der Mann an der Bar sprach in sein leeres Schnapsglas als hielte sich darin irgendein bedeutender Gesprächspartner versteckt. Er zuckte unruhig mit den Achseln und versuchte ganz offensichtlich jemanden davon zu überzeugen, dass heute der Tag aller Tage war. “Heute ist der Tag aller Tage, an dem ich mich nicht mehr zurückhalten werde. Oh boy! Heute sag ichs ihm. Heute sag ichs ihm.” Der Mann kratzte sich nervös am Kopf und grub seine Finger tief ins dunkelbraune Haar.
Sie saß alleine mit ihrem Laptop und einem Glas Whiskey an einem kleinen Holztisch in dem ansonsten leeren Lokal. Es ist jetzt 13.33 Uhr. Ich sitze alleine mit meinem Laptop (Thinkpad, Anm.) und einem Glas Whiskey (irisch, Anm.) an einem kleinen Holztisch (Buche, Anm.) in einem ansonsten leeren Lokal (San Francisco, Anm.). Sie tippte die Zeilen gewissenhaft auf eine leere Seite in einem frisch geöffneten Google Docs-Dokument mit dem Titel “Untitled”.
“Another one.” Der Mann mit dem zerzausten dunkelbraunen Haar an der Bar nickte dem Barkeeper zu und setzte sein Gespräch mit dem Schnapsglas fort. “Heute mach ich Schluss, heute kommst du mir nicht mehr damit durch.” Fucker, dachte sie. Da fliegst du weißderteufelwieviele Kilometer (Meilen, Anm.) um die Welt und dann sitzt da in einer Bar in San Francisco so ein vertrottelter Deutscher, der sich mitten am Nachmittag die Birne wegsäuft und mit seinem Schnapsglas unterhält. Er sieht süß aus mit seinen Wuschelhaaren, dachte sie und schrieb es dann auch in ihr Google Docs-Dokument. “A glass of milk, please!” Sie winkte dem Barkeeper mit beiden Armen zu, als wollte sie ein Passagierflugzeug auf seine Parkposition einweisen.
Wenn sie jetzt ein Glass Milch trank, wie würde sich das in ihrem Magen wohl auf die Whiskey-Unterlage auswirken? Naja gut, also, White Russian hat auch noch nie geschadet, dachte sie und schrieb es unter die Zeile, in der es um die Wuschelhaare ging.
“Wie heißt du?” Hatte sie das gerade wirklich laut gefragt? Es war nicht unbedingt ihre Art fremde Menschen anzusprechen. Weniger noch am Nachmittag. Und noch viel weniger, wenn es sich dabei um offensichtlich betrunkene Irre handelte, die sich mit einem Schnapsglas unterhielten. Auf Deutsch. In San Francisco. “Wie heißt du denn?” Sie wiederholte den Satz, um auch wirklich sicher zu gehen, dass sie entgegen ihrer Art eben genau das gerade gesagt hatte. Gefragt.
Der Barkeeper blickte in ihre Richtung, nickte und bückte sich hinter seinem Tresen, um aus nicht nachvollziehbaren Untiefen eine Packung Milch hervorzuholen. Niemand sagte ein Wort.
“Sag einmal, wie heißt du denn?” Der wuschelig bekopfhaarte deutsche Schnapsglasirre reagierte weiterhin nicht auf ihre Frage. Spinnt der Typ? Ist er vielleicht taub? Gibt es das denn? Eine innerliche Erregung kroch durch ihren mit Whiskey-Nachgeschmack gefüllten Hals herauf und trieb ihr eine kirschrote Wut ins Gesicht. So fühlte es sich jedenfalls an. Unfassbar. “Heute ist der Tag aller Tage. Alter.” Der Mann an der Bar wurde lauter. Sie stand auf und schlurfte in Richtung Theke, auf der ein milchgefülltes Bierglas auf sie wartete.
Puh. Was nun?
Sie stützte ihre Arme an den Hüften ab und stellte sich neben den Schnapsglasdeutschen, wie er jetzt offiziell in ihrer für später vorgemerkten Geschichte hieß. “Hast du einen Namen oder wie?” Sie boxte ihm mit ihrem rechten Ellbogen leicht in die Seite. Der Mann schaute von seinem Schnapsglas auf, drehte sich zu ihr hin und lachte. “Was ist denn bitte so lustig?” Sie versuchte ihre kirschrote Wut unter Kontrolle zu halten, aber es war wohl schon ein wenig zu spät dafür. Der Mann ging nach wie vor nicht auf ihre dringlichen Fragen ein. “Und du so? Kellnerin oder Auslandssemsterstudentin oder beides?”
Sie musste sich jetzt arg zusammenreißen. Nein eigentlich musste sie sich nicht zusammenreißen. Sie musste überhaupt gar nichts. Was bildete der sich ein? Umgangsformen, schon mal was gehört davon? Was für eine grenzüberschreitende Frechheit! Sie spürte, wie sich ihr Gesicht langsam in einem Meer von Rot, in einem roten Wutmeer auflöste. In ihren Haarspitzen zuckten kleine Stromschläge und aus ihren Ohren quoll ein ungewöhnlich lauter Tinnitus. Na dem werd ichs jetzt zeigen.
“Kellnerin”, antwortete sie und nahm einen Schluck Milch. Der Schnapsglasdeutsche zuckte mit den Schultern und schob seinen kleinen Gesprächspartner ein Stückchen in ihre Richtung. “Na ist ja auch egal, ne.” Na und ob das egal war, und überhaupt war sie gar keine Kellnerin und wie konnte so ein Typ einfach so etwas fragen, eine fremde Frau in einer Bar am Nachmittag in San Francisco. Na also das war ihr jetzt nicht mehr egal. “Egal”, sagte sie und nahm noch einen Schluck Milch. “Ist sowieso alles schon egal. Mir persönlich ist das ganz egal, wie du heißt. Du musst mir das echt nicht sagen. Wir brauchen da keine Sache daraus machen. Ehrlich.” Sie schaute ihm in die Augen, die halb von den Wuschelhaaren verdeckt waren. “Eben”, er schob das Schnapsglas noch ein bisschen näher zu ihr hinüber. “Danke.” Sie setzte an und trank es leer.
Es war ein bisschen stiller geworden innen in ihrem Kopf und auch außen in der Bar. Immerhin hatte sie den Gesprächspartner des Schnapsglasdeutschen ausgetrunken, quasi. Mit wem sollte er jetzt noch sprechen? Ob sie ihn darauf ansprechen sollte? Sie nahm noch einen weiteren Schluck Milch. Der Barkeeper schob ihr daraufhin eine halbleere Zweiliterplastikflasche Full Fat hin. Überhaupt wurde ihr an diesem Tag viel zugeschoben. Nein, eigentlich wurde ihr an jedem erdenklichen Tag viel zugeschoben, aber anders. Sie wusste nicht, was sie zu dem Wuschelhaarmenschen, der bis gerade eben der Schnapsglasdeutsche gewesen war, noch sagen sollte. Sie fühlte sich betrunken und ein bisschen traurig. “Ich werde mich nun wieder an meinen Tisch setzen.” Sie klang wie ein zwölfjähriges Mädchen, das sich mit seiner Deutschlehrerin über eine misslungene Hausaufgabe unterhielt – kurz nachdem feststand, dass an der schlechten Note nicht mehr zu rütteln war. “Mmm. Ciao.” Der Mann sagte nichts, sondern schaute sie bloß belustigt an. Sie drehte sich um und schlurfte zu ihrem Platz zurück.
Das Google Docs-Dokument mit dem Titel “Untitled” war noch immer auf ihrem Rechner geöffnet. Sie hatte aber keine Lust mehr, daran weiterzuschreiben. Sie klappte den Laptop zu und starrte aus dem Fenster in einen kleinen mit Unkraut verwucherten Hinterhof, in dem sich eine schwarzweiße Katze auf dem Rücken über den sandigen Boden rollte. Ein Foto machen? Ach, scheiß drauf. Sie hatte ihre Milch an der Bar vergessen.
“Das war heute gar kein so schlechter Tag”, der Schnapsglasdeutsche hatte sich seinen Gesprächspartner wieder auffüllen lassen. “Ich hab ein süßes Mädchen getroffen. Sie hat mich angelogen und behauptet, sie sei eine Kellnerin.”
Don’t leave my hyper heart alone on the water