An der Ecke links

David Bowie – Five Years

“Ok dann. Ciao. Für immer ciao.” Sie knallte ihr Smartphone auf den Boden, lief in die Küche und riss den Kühlschrank auf. Sie brauchte jetzt schnell irgendwas – Wein, Bier, Wodka, egal. Wodka. Sie nahm die Flasche heraus, schraubte den silbernen Verschluss ab und setzte an. Ok, ok, ok. Besser. Atme, dachte sie, atme. Dann rannte sie quer durch die Wohnung, drehte die Musik lauter, rannte wieder quer durch die Wohnung und stellte sich schließlich vor den Spiegel im Badezimmer. Ihr Gesicht brannte, die Augen waren gerötet und geschwollen, die Haare klebten schweißnass auf ihrer Stirn. Sie nahm einen schwarzen Eyeliner aus dem Schrank neben dem Spiegel und zog sich dicke Linien unter den Augen. Dann rannte sie zurück in die Küche.

Fuck. Die Flasche war so gut wie leer. Ok, ok. Nochmal rausgehen, dachte sie. Sie zog ihre Schuhe an, steckte sich einen Zwanzig-Euroschein in die Hosentasche und stolperte hastig zur Tür raus.

Fuck. Es regnete. Es war dunkel. Es war kalt. Zu kalt für Mai. Egal, dachte sie, egal, jetzt nur schnell eine neue Flasche Wodka kaufen. Sie lief die Straße entlang, dann links in die nächste, dann nochmal links. Nur noch zehn Meter, fünfzehn vielleicht. Ihre Schritte verlangsamten sich langsam. Gleich war sie am Ziel. Jetzt nur schnell eine neue Flasche Wodka kaufen.

Fuck. Sie schlug mit dem Gesicht auf dem nassen Asphalt auf. Ihre Arme schrammten am Gehsteigrand entlang. Was war das? Scheiße, scheiße, was war das? Sie versuchte sich zu bewegen, drehte sich zur Seite und tastete ihren Kopf vorsichtig nach Blutspuren und Kieselstein-Einschlagslöchern ab. Offensichtlich hatte sie irgendjemand heftig von hinten gestoßen. Atme, dachte sie, atme. Ihr Kopf schmerzte, Löcher schien es aber keine zu geben. Atme, dachte sie. “Du musst aufstehen, schnell, steh auf.” Eine Frauenstimme brüllte ihr ins rechte Ohr. “Na komm schon, los, steh auf, beeil dich.” Die Frauenstimme wurde noch lauter. Sie versuchte ihren Blick, der sich an ein rotes Paar Doc Martens direkt vor ihrem Gesicht geheftet hatte, nach oben zu richten.

“Los, sie kommen, steh endlich auf.” Eine Hand schnellte nach unten und zog heftig an ihrem linken Arm. Sie nahm alle Kraft zusammen und bewegte ihren schmerzenden Körper – erst auf die Knie, dann auf die Füße. Die junge Frau, die ihr unentwegt entgegen brüllte, schien es wirklich eilig zu haben. “Bist du ok? Wir müssen schleunigst hier weg. Achja, und sorry. Aber los jetzt.” Sie verstand kein Wort. Worum ging es gerade? Wer war diese Frau? Und wer war hinter ihr her? Sie versuchte etwas zu sagen, aber offensichtlich war für Fragen gerade nicht die richtige Zeit. Also gut, dann laufen wir davon!

Sie rannte neben ihr her. Die Frau immer einen halben Schritt schneller, einen halben Schritt voraus. “Da lang, wir müssen runter zum Kanal.” Sie liefen noch ein bisschen schneller. Ihr Rücken schmerzte, ihre aufgeschürften Hände waren nass und schmutzig, an ihrem linken Knie war die Hose blutdurchtränkt. Aber das alles war überhaupt nicht wichtig, wichtig war nur, dass sie jetzt davonlief. Sie lief und lief, Seite an Seite mit dieser unbekannten Frau, ohne zu wissen, warum. Je länger sie so schmerzgeplagt durch die Nacht in Richtung Kanal lief, desto überzeugter war sie davon, dass das jetzt das einzig Richtige war, das Einzige, das zählte. Sie rannte und rannte, irgendwann rannte sie um ihr Leben.

“Wir sind jetzt da. Bleib stehen.” Die Frau keuchte und fasste sich an die Brust. “Da.” Der linke Arm der Frau deutete in die Dunkelheit, von der umgeben der Kanal um diese Uhrzeit die Stadt  fast lautlos von Norden nach Süden in zwei Teile schnitt. “Wir müssen uns auf den Boden legen, damit sie uns nicht finden.” Jene Hand, die sie zuvor nach ihrem Sturz am Gehsteig nach oben gezogen hatte, riss sie nun heftig nach unten. “Schneller, du musst wirklich schneller werden.” Der Tonfall der Frau war ernst, die Situation war angespannt, so viel war klar.

Der Regen wurde immer heftiger. Sie lag flach auf dem Bauch, die Arme nach vorne unter dem Kopf verschränkt. Zwei Zentimeter entfernt vom Abgrund, zwei Zentimeter entfernt vom Kanal und seinem schwarzen, stillen Wasser. Neben ihr lag die fremde Frau in gleicher Position, ihre Schultern stießen leicht aneinander. “Puh. Das war knapp. Das war wirklich knapp.” Sie drehte ihren Kopf zur Seite und blickte der Frau in die Augen. Jetzt, zum ersten Mal hatte sie Gelegenheit ihr in die Augen zu sehen. Die Frau hatte sehr hübsche Augen und eine coole, wenngleich eigenartige Frisur. Woran du jetzt wieder denken musst, dachte sie.

Sie wollte irgendetwas sagen, eigentlich wollte sie endlich irgendetwas fragen, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie ohnehin schon alles wusste. “Ich mag dich. Du bist ziemlich langsam, aber ich mag dich.” Der Kopf der jungen Frau rückte ein Stückchen näher an ihren heran. Dann streichelte eine Hand über ihr Gesicht. “Ich bin froh, dass wir es beide geschafft haben.” Die Frau sprach jetzt sehr sanft und leise. Ihr Kopf rückte noch etwas näher heran, und dann noch ein bisschen näher, bis sich ihre Nasenspitzen berührten. “Sag, wenn du soweit bist.”

I kiss you, you’re beautiful, I want you to walk

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