Zum Abschied ein Tusch

Songs: Ohia – Tigress

Im Auto war alles ganz normal gewesen. Der Papa, die Mama vorne, sie hinten. Sie hatten über ihre Arbeit geredet und über Reisen, vergangene sowie kommende, über Politik und dann noch über das Wetter, mit dem es schon immer ärger wurde, das musste man sagen: Mit dem Wetter wurde es eigentlich kontinuierlich immer ärger. Kurz hatten sie noch anhalten müssen wegen der Blumen. Für jeden eine. Die Mama war ausgestiegen und hatte die Blumen aus dem Laden abgeholt, weil sie nämlich vorbestellt waren. Früher hatte der Papa immer alles und alle abgeholt – sie vom Kindergarten, den Onkel von der Arbeit und die Pizza von der Pizzeria. Davon gab es aber mittlerweile gar nichts mehr – den Kindergarten nicht, den Onkel nicht, die Pizzeria nicht. Schon eigentlich ganz lange gab es das alles nicht mehr. Wahrscheinlich holte der Papa immer noch regelmäßig Leute und Sachen irgendwo ab, aber da hatte sie jetzt nicht mehr so den Einblick.

“Grüß dich. Schlimm gell, immer sehen wir uns nur, wenn es so schlimm ist.” Sie schüttelte unentwegt irgendwelche Hände, viele der Händebesitzer hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen, jedenfalls nicht so, dass sie noch ein Gesicht oder einen Namen dazu im Kopf gehabt hätte. Es war jetzt nicht mehr alles ganz normal so wie im Auto. Die Mama brach neben ihr so nach und nach ziemlich weg, und die Mama brach echt nicht leicht weg. Sie hielt ihre Hand, ob das etwas half? Jedenfalls konnte es wohl auch nicht schaden. Das Wetter war sehr schön, heiß war es hier. In der Stadt war es in der letzten Zeit viel zu kalt gewesen für Juli, aber hier auf dem Land war es jetzt sehr sommerlich. Ein sehr schöner Tag ist das heute, dachte sie – einmal rein wettermäßig betrachtet.

“Sie bringen ihn jetzt gleich raus”, sagte irgendjemand, den sie nicht sehen konnte, dessen Stimme ihr aber vertraut war. “So, wir gehen da jetzt ganz vorne hin.” Die Mama war schon wieder ganz normal. Kurz halt, und abgesehen von den sehr roten Augen, was wahrscheinlich vom Weinen kam, eher weniger von der Sonne, obwohl die auch recht brannte gerade.

Die Menschen auf so einem Begräbnis sehen sehr schick aus, dachte sie. So gesamt gesehen, als eine einheitliche Masse, sehen die Menschen auf so einem Begräbnis wirklich schön aus. Das galt sogar für all diese Menschen, die im normalen Leben ja überhaupt keinen Geschmack hatten, was Kleidung betraf, oder noch schlimmer, einen total schlechten. Jedenfalls jetzt alle in Schwarz, alle mit gesenktem Kopf, die meisten mit blassen Gesichtern und hochroten Augen, viele mit Blumen in der Hand – das Gesamtbild machte etwas her, dachte sie sich, als sie der Mama ganz fest die Hand drückte, als würde das jetzt noch irgendetwas helfen. Nun, irgendetwas half es bestimmt. Der Trauerzug musste noch ein Stückchen weiter die Straße hinunter, der Sarg wurde ganz vorne von irgendwelchen Männern in irgendeiner Uniform angeschoben. Das konnte jetzt vieles sein: Feuerwehr, Jäger, Musikkapelle, Sparverein – sie wusste das nicht. Die Männer hatten aber auf jeden Fall einen starken Bezug zum Verstorbenen. Das kannte sie so schon von anderen Begräbnissen, die auch ähnlich waren und auch meistens hier. Oft sogar.

Mit der Zeit wird es nicht einfacher, es wird surrealer. Du klinkst dich aus, du siehst die Menschen, wie sie heulen, du hörst den Bürgermeister und den Dorfpfarrer irgendwelche Sätze sagen, dann drückst du der Mama die Hand, manchmal dem Papa, manchmal gar niemandem, und dann fällt dir nichts Besseres ein, als daran zu denken, dass das ein schöner Sommertag ist, oder die Leute alle so gut angezogen sind. Dass du selber auch die ganze Zeit die Tränen wegwischst, noch öfter aber hinunterschluckst, das fällt dir doch nach so vielen Malen gar nicht mehr auf. Tot. Das fühlt sich alles einfach irgendwie tot an. Na, das passt ja wunderbar!

Die Ansprachen dürften dann bald fertig sein, sagte man da Ansprachen dazu? Von solchen Dingen hatte sie wirklich überhaupt keine Ahnung. Es gab gewisse Codes und Regeln in der Gesellschaft, gewisse Gepflogenheiten und gewisse Abläufe, da war sie einfach voll nicht in der Materie drin. Sie drehte sich kurz um, ließ den Sarg und die Trauergäste, die da alle auf so einem kleinen Plätzchen am Straßenrand standen, kurz aus den Augen. Sie schaute weg. Der Mama drückte sie weiterhin ganz fest die Hand, aber kurz einmal schaute sie weg auf die andere Seite, die Straße hinunter. Das gibt es doch gar nicht! Da lag jetzt allen Ernstes eine tote Katze mitten auf der Bundesstraße –  und zwar frisch überfahren, das war deutlich zu erkennen, die war komplett frisch überfahren. Na, das passt ja wunderbar!

“Ich will zu dir.” Da sie kein Post-it zur Hand hatte, um das aufzuschreiben, musste sie es, neben all den anderen banalen Dingen in ihrem Kopf, jetzt auch noch denken. Es wäre überhaupt nicht toll gewesen, wenn er hier bei ihr gewesen wäre in dem Moment, klar. Aber es wäre schon sehr toll gewesen, sich da jetzt auf der Stelle rauszuwinden und bei ihm zu sein. Ach, sie hatten sich so lange Zeit nicht gesehen. So unfassbar lange Zeit, dass sie ihn sehr oft schon vergessen hatte, aber halt nie ganz. Nie, nie, nie. Das von damals, das würde sie in ihrem ganzen Leben nicht vergessen. Dabei wusste sie manchmal gar nicht mehr, ob das alles wirklich passiert war, oder ob sie es nur geträumt hatte. Wahrscheinlich war das aber so ein Moment damals, wie er bei Leuten, die gleich sterben, dann so als letzter Film nochmal schnell drüber flimmert. In der Kategorie war das wohl, aber gut, das würde sie erst später mal rausfinden, wenn es mit dem Sterben soweit war.

Boah. Sie zuckte zusammen. Auf den lauten Knall war sie mal wieder nicht vorbereitet. Das ist jetzt das wie vielte Mal, dass du hier stehst und der Mama oder dem Papa oder gar niemandem die Hand drückst? Exactly. Aber auf den Knall vergaß sie jedes Mal wieder. Da oben am Hügel wurden von irgendwelchen Männern, ähnlich jenen, die den Sarg schoben, von denen sie nicht genau wusste, wer sie waren und zu was sie gehörten, Böller abgefeuert. Zu Ehren des Verstorbenen. Das machte man hier so. Ob man das auch noch irgendwo anders auf der Welt so machte, wusste sie nicht, sie hatte sich da aber auch nie erkundigt darüber. Sämtliche Informationen, die sie dazu hatte, waren rein empirisch. Na, das nächste Mal dann halt, das nächste Mal schreckst du dich nicht mehr.

Der Trauerzug setzte sich wieder in Bewegung, das kleine Stück Straße zurück zum Friedhof, von wo aus es losgegangen war. Sie schlich neben der Mama her und drehte sich noch einmal nach der toten Katze um. Sie empfand nichts.

It’s difficult not to worry about what happens next

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